Vor etwa zehn Jahren fand im Münchner ,Haus der Kunst' eine Ausstellung statt unter dem Titel "Wettstreit der Künste". Die Frage war, welches wohl die höhere Kunst sei, die Malerei oder die Bildhauerei. Eines der ausgestellten Bilder von Ribera zeigte einen blinden Mann, der sich eine Skulptur durch den Tastsinn erschließt. Neben ihm liegt ein Gemälde, das er nicht wahrnimmt, weil er es nicht sehen kann. Im Ausstellungskatalog heißt es, diese Darstellung der Künste sei geprägt von einer beißenden Ironie des Malers. Naiv betrachtet könnte es auch ein Lob der Skulptur in Form eines Gemäldes sein. Die eine Kunst will die Größe der anderen mit ihren Mitteln beschreiben. Kein Wettstreit, sondern eine Annäherung voller Respekt vor der Leistung des anderen.
Dies hier ist der Versuch, dem Worterschaffer und seinem Werk mit Hilfe von Wörtern näher zu kommen. Aber ein Wettstreit der Künste soll es nicht werden. Denn die Autorin ist keine Künstlerin, sondern betreibt ein Handwerk. So sieht sie es selbst, so soll es auch bleiben. Aber vielleicht ist es einfach nur Feigheit. Sie möchte sich auf keinen Fall auf einen Wettstreit einlassen zwischen dem geschriebenen und dem aus Stein gehauenen Wort. Zumal Jörg Haberland auch noch einer ist, der von Texten etwas versteht. Immerhin hat er auch Sprach-und Literaturwissenschaften studiert. Nur ist seine Art, mit Buchstaben umzugehen, weniger geschwätzig und weniger gefällig. Er macht Worte und Buchstaben groß. Nein, er gibt ihnen Größe, baut sie für die Ewigkeit. Da kann niemand dagegen halten, der wie die Autorin Wörter in großen Mengen tippt, Buchstaben, Wörter, Sätze, Abschnitte, Kapitel schafft, damit Seite um Seite füllt.
Jörg Haberland arbeitet mit dem einzelnen Buchstaben, muss um ihn tagelang ringen, sich mit schweren oder schwer zu bearbeitenden Materialien auseinandersetzen. Er drückt nicht einfach eine Taste wie die Autorin, seine Worte sind wohl gewählt, auserkoren aus vielen anderen, keinesfalls beliebig.
Im Fall von ,Archetypes' ist jeder Buchstabe gewichtig, wiegt immerhin 250 kg. Der Künstler hat das Material, Anröchter Dolomit, selbst geholt, aufgeladen, transportiert, dann bearbeitet, aus Stein wird Buchstabe wird Wort.
Warum dann FUCK? Warum nicht Liebe oder Sehnsucht, was die Menschen eben so antreibt? Man kann diese Buchstaben, wenn man denn die nötige Kraft besitzt, aufeinander stellen, nebeneinander legen, sie neu anordnen, nicht F-U-C-K sondern U - K - F - C ... Der Betrachter wird immer wieder versuchen, sie in eine Reihenfolge zu bringen, die für ihn Sinn ergibt. Dann heißt es eben wieder: FUCK.
Ein Wort, das in einem Text nicht auffällt, hier steht es singulär, schwer, gewichtig, jeder Buchstabe ein Werk. Zusammen mit den beiden anderen ,Archetypes' EAT und DIE ergibt sich eine kurze Beschreibung der menschlichen Existenz mit Buchstaben, die einen auch erschlagen können wie die Wahrheit.
So viele Buchstaben, so viele Wörter, der Text wird immer länger. Sagt er mehr als die Skulptur? Leider nicht. Man kann ihn nicht anfassen und begreifen wie Jörg Haberlands Worte, man kann nicht daraufsitzen wie auf manchen seiner Buchstaben, man kann diesen Text nicht in die Landschaft stellen. Es fehlt ihm die Gewichtigkeit, die Größe, das Sperrige. Am Laptop muss man sich nicht mit dem Material auseinandersetzen, ihm keine Form abringen, die Autorin hat weder Stein noch Stahl als Material gewählt, weder behauen noch geschweißt. Das Schreiben ist ein anderer Kampf. Einer, den fast alle Menschen kennen, seit sie in der Schule Aufsätze schreiben mussten. Die Suche nach der Idee, nach dem Handlungsbogen, nach dem einzelnen Begriff, der Formulierung. Dazu kommt der Kampf mit dem Programm, der Tastatur oder der Batterie. Bleibt etwas Fassbares und Greifbares?
SCULPTURA - die einzelnen roten Buchstaben hat Jörg Haberland aufeinander gestapelt. Man kann sie nicht von rechts nach links lesen, muss sich das Werk schon sehr genau ansehen, um einen Zugang zu bekommen. Auch wenn es große Buchstaben sind, man kann nicht schnell lesen wie bei diesem Text. Das Wort wird nicht nur bildlich, sondern raumgreifend. Es wächst in den Himmel wie der Turm von Babylon. Keine Sprachverwirrung, aber doch ein sehr überlegter Umgang mit dem Wort. Aber hat der Betrachter das Wort deshalb schon verstanden, weil er es anfassen kann?
Wirkt ein Buch anders im Zug als zu Hause auf dem Sofa oder im Bett? Vielleicht ist ein Thriller leichter erträglich, wenn es nicht dunkel ist, wenn man nicht allein ist. Aber ansonsten - der Text ist Text und ändert sich kaum. Er wird eher durch Digitalisierung, durch E-Book und E-Reader noch weniger greifbar, noch virtueller.
Aber wenn Jörg Haberland seine ,natura morta' in die freie Landschaft stellt, an einen Fluss, auf eine kümmerliche Wiese, dann ergeben die Buchstaben und Worte aus Stahl einen neuen Sinn. Wer sie vorher nur im geschlossenen Raum gesehen hat, verteilt auf die enge Fläche in ausgesuchter Anordnung, wer sie als Gelegenheiten zum Sitzen oder Anlehnen genutzt hat, dem erscheinen sie hier in völlig neuem Zusammenhang. Die freie Natur wird zum Stilleben, man muss sie gar nicht mehr malen, um ,natura morta' zu erschaffen. Oder waren sie schon tot, die dürre Wiese, der graue Fluss, bevor sie Teil eines Stillebens wurden?
Manchmal schreibt Jörg Haberland kleiner. Mit Wachs zum Beispiel oder mit Silikon. Hände, die ein Wort halten. Nothingness. Ach, warum hat er wieder keinen großen und schönen Begriff genommen, der Worterbauer, der Linguist, der Bildhauer? Wieder nichts mit Liebe oder Sehnsucht. Stattdessen hat das Nichts Form angenommen. Wie schwer es doch mit Wörtern zu beschreiben ist, dieses eine Wort, das menschliche Hände halten. Die andere kleine Arbeit: Ein Wort hängt in der Luft, gehalten vom Finger einer Hand, politics - der Mittelfinger im o eingehängt, damit das Wort nicht fällt Warum der Mittelfinger, warum politics ... Immer mehr Fragen als Antworten.
Ratlos bricht die Autorin den Versuch ab, die Arbeit des Wortbauers zu beschreiben. Wer so viele Buchstaben und Wörter braucht, um sich der Arbeit des Bildhauers überhaupt nur anzunähern, der braucht sich auf keinen Wettstreit einlassen, der muss doch scheitern. Umgekehrt: Kann jemand, der dem einzelnen Buchstaben so viel Bedeutung schenkt, bei dem ein Wort auch eine Tonne wiegen darf, der sich Tage, Wochen, Monate diesem einen Wort verschreibt, um es aus dem Stein zu hauen - kann dieser Mensch Verständnis aufbringen für jemanden, der am Tag zehn Seiten zu Papier bringt, Wörter an Wörter reiht?
Jörg Haberlands Werke kann man lesen. Obwohl sie wenige Buchstaben haben, sind sie nachhaltiger als die meisten Texte. Sie sperren sich dagegen, flüchtig aufgenommen zu werden. In ihrer Größe, in der Wahl des Materials, durch ihr Gewicht, durch die Wahl der Buchstaben und Worte. Nichts für Vielleser. Nichts für Schwätzer.
Die Autorin hört auf zu schreiben. Sie schaltet den Laptop aus und macht ihn zu. Zu viele Buchstaben, zu viele Wörter. Vielleicht reicht ein Wort. Das richtige. Ein Wort, das sich ein Mensch abgerungen hat. Nicht geschrieben, sondern erschaffen. Aus Stein, aus Stahl, groß, gewichtig.
Natura morta. Politics. Sculptura Nothingness. Fuck. Eat. Die.
(Links zu den Arbeiten nachträglich zugefügt)