Jörg Haberland sagt: ‘‘Eine Skulptur zu machen bedeutet für mich, mich mit einem Thema so weit auf sprachlich-literarischer Ebene auseinanderzusetzen, bis es nicht mehr geht. Das heißt, alles das, was ich sagen kann, sage ich auch und setze es nicht in ‘Kunst’ um.’’
Grenzüberschreitung also, eine Kunst zuallererst jenseits der Worte, jenseits vor allem der Illustrierung etwa einer literarischen Auseinandersetzung, einer Auseinandersetzung, die indes für jemanden wie Haberland, der auch Literaturwissenschaft studiert hat, keineswegs oberflächlich geschieht, sondern in historische und gedankliche Tiefendimensionen zum Beispiel der Religion und der Mythen reicht - zu skulptural integrierten Elementen gewordene Wörter wie BABYLON oder DELPHI verweisen darauf.
“Bis es nicht mehr geht": das ist der Moment, in dem von Haberland die Grenze vom Literarisierbaren, für sein Empfinden im Dekorativen, Geschmäcklerischen sich Erschöpfenden überschritten wird zur schöpferischen Arbeit an Stahl, Stein, Holz. Wo das Sprechen, das Bereden, die Erschließung der Welt und der eigenen Erfahrungen in der Welt anhand von Worten, von Schrift, von Literatur eben verstummt, an dieser Stelle beginnt das schöpferische Machen aus dem plastischen, skulpturalen Material. Für Haberland bleibt das Reden Oberfläche, die Suche darüber hinaus und in Tiefenschichten kann für ihn nur in der Arbeit am konkreten, buchstäblich wortlosen Material
Haberlands Arbeiten wollen offenbar nicht nur als ästhetische Erscheinung betrachtet und Wortkategorien wie "schön" oder “interessant” zugeordnet werden. Sie wollen jenseits dieser - ja gewiß akzeptierbaren ‘‘Oberfläche" - mit uns in eine andere Form von Gespräch kommen, für die möglicherweise eine ausharrende, schweigende, meditative Betrachtung die Voraussetzung ist. Vielleicht, um am Ende den Wert zu erlangen, den Susan Sontag in ihrem Essay “Gegen Interpretation” als den höchsten und befreiendsten in der Kunst ansieht: Transparenz. “Transparenz meint die Erfahrung der Leuchtkraft des Gegenstandes selbst, der Dinge in ihrem Dasein”, wobei hier, bei Haberland, zu den “Dingen" das Wort gehört, die Schrift.
Die Häufchen aus Buchstaben ließen mich sofort an die darin enthaltene, gleichsam unendliche Menge an kombinatorischen Möglichkeiten denken. Begriffe wie Buchstabengedicht fielen mir ein, ich dachte an die Wort- oder Laut- oder graphischen Gebilde der Konkreten bis hin zur konzeptionellen Poesie, an einen Vers wie “worte sind schatten” von Eugen Gomringer, ich dachte an Futurismus, Dadaismus, Surrealismus, an jene Versuche in der literarischen Moderne, sich jenseits einer als abgedroschen, unbrauchbar empfundenen Sprache authentisch auszudrücken, jenseits einer Sprache, deren Worte einem - wie Hofmannsthals Lord Chandos - buchstäblich im Munde verfaulen, wenn man sie aussprechen will, weil sie nichts mehr sagen - eine Situation, die zum Ausdruck des Schweigens als der einzigen noch möglichen Dimension der Verständigung geführt hat, auch dieser Ausdruck längst abgerutscht ins Geschmäcklerische und Dekorative, eine Situation, über deren Gründe Symposien stattfinden, dicke Bücher geschrieben werden und mannigfaltige Aufsätze sowie Zeitschriften- und Zeitungsartikel, die völlige Technisierung der Gesellschaft, des Menschen, Werteverlust, Gottesferne, Überbevölkerung, eine Situation, die uns Haberlands Objekte in ihrem geduldigen Stummbleiben gleichsam in ihrer Negation vor Augen führen. Und nicht nur das: in ihrem beharrlichen Versuch, mit dem Hier und Jetzt des Raumes, in dem sie sind, zu kommunizieren, in ihm zu verweilen, eine flüchtige Stätte zu finden, an der sie über ihre Existenz als bloß Sichtbares und Beredendes hinaus eine Form von geistigem Sein realisieren, von Transzendenz, fordern uns Jörg Haberlands Objekte in ihrem raumbezogenen formalen Lösungen auf, für Momente einzuhalten, uns zu besinnen und möglicherweise die Suche zu beginnen nach einer Antwort jenseits der lärmenden Gegenwart.
Das klingt - biblisch. Dabei liegt das Zeitalter der Religion hinter uns, und wir sind längst in das Zeitalter der Lust, auch der Lust an der Gewalt eingetreten. Da sehen wir auf einmal Verluste, zum Beispiel der Ruhe, der Harmonie der Sphären, der Geborgenheit in einem wie immer verstandenen Transzendenten. Tatsächlich hat Jörg Haberland häufiger "Tempel" gebaut, diese Objekte auch so genannt - kein religiöses Unterfangen indessen, ist er doch ein heutiger Mensch, postmodern, gebrochen.
In seinem Buch “Metamorphosen des Kreises in der Dichtung" - auch hier eine Verbindung zur Literatur - weist der Autor Georges Poulet darauf hin, daß die Form des Kreises die dauerhafteste jener Formen ist, die uns eine Vorstellung von unserem geistigen und realen Standort gestatten. Er zitiert den Kunsthistoriker Focillon: Diese Formen des Kreises, “bestimmt mit kräftiger Klarheit und wie in hartes Material geprägt, durchziehen die Zeit, ohne von ihr berührt zu werden. (...) Wandelbar ist die Art, wie sie von den Generationen, die einen verschiedenen Inhalt hineinlegen, interpretiert werden.” Genau vor diesem, in die Tiefe der Zeit, in die Tiefe eines kollektiven Erinnerns reichenden Hintergrund sehe ich Haberlands Arbeiten: Er strukturiert der Skulptur, beziehungsweise der Mischform aus Skulptur und Plastik Schrift ein, BABYLON, ARMAGEDDON, DELPHI, SINAI, läßt damit das eigene Tun, das eigene Sicherarbeiten von religiöser, mythischer Erinnerung einfließen. Ein Betrachter/eine Betrachterin kann das in seiner/ in ihrer Weise nachvollziehen. BABYLON zum Beispiel ist in schlichter, schnörkelloser Helvetica in Stein gehauen. Der beschriftete Stein dann eingefügt in Kreise aus Metall. Unter den Abdeckplatten aus Glas dann die Buchstabennudeln, künstlerische Idee fixe, Sprachabhub unserer Zeit, zerfallene Schrift, in ihre Elemente aufgelöste Geschichte, pulverisiertes Gedächtnis, atomisierte Bedeutung. Wunderbar komplementär dazu die gleichermaßen Schrift bewahrenden Kästchen, Häuschen - “One size fits all" - , und vor allem die Stelen, so plaziert, daß sie wirklich in formaler Harmonie mit dem Raum die Kommunikation mit ihm zu eröffnen versuchen als “bewegliche Stätte" -alles weitere ist nun- mit Susan Sontag gesprochen - Interpretation, und eben jenseits davon beginnt die Kunst Jörg Haberlands.
Helmut Ulrich, Berlin