Über das Wahrnehmen einer Skulptur

Remy Zaugg

"Die alltägliche Wahrnehmung nimmt wahr, was sie weiss, was sie beherrscht, was ihr vertraut ist. Sie nimmt nur wahr, was sie schon häufig wahrgenommen hat. Die alltägliche Wahrnehmung nimmt nur wahr, was sie immer wahrgenommen hat, als wäre sie heute dasselbe als das, was sie von jeher ist, als wäre sie zu allen Zeiten diesseits von jedem Lernprozess gestanden.

Im wahrgenommenen Gegenstand erkennt die alltägliche auf die Orientierung bezogene Wahrnehmung eine Klasse von Gegenständen, die mit einem allgemeinen Namen bezeichnet wird. Die elementare Wahrnehmung, die lebenswichtige oder natürliche Wahrnehmung, die der Orientierung dient, ist ein automatisch funktionierendes Notsystem, welches augenblicklich auf die Reize der Umgebung reagiert. Sie erkennt den Gegenstand, indem sie zwar eine minimale, doch genügende Anzahl relevanter Eigenschaften erkennt. Es geht ihr direkt um die minimale Anzahl Eigenschaften, die zur Identifizierung des Gegenstandes genügen, aber auch zur Identifizierung der Klasse aller gleichnamigen Gegenstände. So erkennt die alltägliche Wahrnehmung im Gegenstand schematisch seine Klasse, die mit einem Namen bezeichnet wird. Jeder gesehene Gegenstand wird einer mit einem Begriff versehenen Gesamtheit zugesellt. Jeder Gegenstand wird letztlich einem Begriff gleichgestellt: im Gegenstand entziffern wir eine mit einem Begriff bezeichnete Klasse von Gegenständen ungefähr auf dieselbe Weise, wie wir im geschriebenen Wort eine Bedeutung entziffern, und neigen wir vielleicht nicht dazu, das Ding durch das Wahrnehmungsschema des Dings so zu ersetzen, wie wir das Ding durch das Wort ersetzen?

Die Bezeichnung von Objekten, auf die ein Begriff verweist, nennt man Denotation. Analogerweise wird hier die lebenswichtige, der Orientierung dienende Wahrnehmung, welche im Objekt schematisch eine denotierte Klasse von Objekten erkennt, denotative Wahrnehmung genannt. Für sie ist die Welt eine Zusammenstellung unterscheidbarer, fertiger und abgeschlossener Dinge, deren Hüter die Wörter sind. Diese Wahrnehmung klassifiziert das Sichtbare und ordnet es nach der Logik eines Lexikons ein; sie verteilt es nach mit Wörtern etikettierten Gruppen, wie die Wäscherin die frischgewaschene Wäsche in die Unterteilungen des Schrankes. Diese Wahrnehmung weiss die Welt und nimmt bei den Objekten nur wahr, was sie davon schon a priori kennt. In den Objekten erkennt sie wieder, was sie weiss. Sie erkennt wieder, was sie wiederzuerkennen weiss. Die lebenswichtige, der Orientierung dienende Wahrnehmung oder denotative Wahrnehmung ist also eine wiedererkennende Wahrnehmung. Oder genauer gesagt, die denotative Wahrnehmung ist ein Spezialfall der wiedererkennden Wahrnehmung.. Nun, hier wäre es besser, von wiedererkennender Wahrnehmung zu sprechen, denn dieser Ausdruck besitzt den Vorteil, die Wichitgkiet der von den Wörtern in der alltäglichen Wahrnehmung gespielten Rolle einzuschränken. Die Rolle der Wörter ist zwar unbestreitbar, aber nicht ausschliessend. Der Einfluß der Wörter oder die Art und Weise, wie sich das Wahrnehmungsschema gestaltet, welches die ausdrückliche Identifizierung eines Reizes ermöglicht, ist hier weniger bedeutsam als die Tatsache, dass die Wahrnehmung schematisch das Objekt erkennt. Das Wesentliche ist für uns zu wissen, dass die alltägliche Wahrnehmung auf ein Schema hinzielt, dass sie sich in einem schematischen Universum bewegt, dass sie wiedererkennt, und dass die Wiedererkennung nur schematisch sein kann."


Aus: Remy Zaugg: Die List der Unschuld, Basel 2004
(mit freundlicher Genehmigung des Kunstmuseums Basel)